Sonntag, 25. Juli 2010
15 Tote
Das Protokoll der Loveparade-Katastrophe
Es sollte eine Party werden – aber ab 17 Uhr nimmt das Drama von Duisburg seinen Lauf. (Quelle: WELT ONLINE)

Am Morgen: Duisburg erwartet den Ausnahmezustand. 490.000 Menschen leben hier, zur dritten Loveparade im Ruhrgebiet sollen Hunderttausende Raver kommen. Der Loveparade-Geschäftsführer Schaller erwartet eine Zuschauerzahl im Millionenbereich. Nur: Auf das Gelände passen offiziellen Angaben zufolge nur 500.000 Menschen.

14 Uhr: Beginn: Vier Stunden sollen 16 Wagen, sogenannte Floats, mit wummernden Bässen um die Tribünen auf dem Gelände des ehemaligen Güterbahnhofs ziehen. Für das Ruhrgebiet soll die Loveparade ein Glücksfall werden, man muss kein Marketingexperte sein, um zu wissen, dass der Werbeeffekt riesig sein könnte. Mangels Platz gibt es in diesem Jahr erstmals keine Parade durch die Innenstadt. Die Floats fahren auf dem Gelände des alten Güterbahnhofs der Stadt im Kreis um eine alte Abfertigungshalle.

14.30 Uhr: 24 Grad, Blauer Himmel. Klaus, 38, ist mit Freundin Anja, 26, aus Münster zu Loveparade gekommen. Sie ist gut drauf, trägt kurze Hose und Pelz. „Ich finde den Pelz klasse. Wo sonst, wenn nicht hier, kann man so ein Teil tragen“, sagt sie.

Die Loveparade in Berlin sei zwar „einen Tacken besser“ gewesen, trotzdem sei die Liebesparty mitten im Ruhrgebiet eine tolle Sache. „Das ist eine richtig geile Party“ ruft jemand vom Wagen. Das Wetter erlaubt es, sich mit nacktem Oberkörper zu präsentieren. Die Raver machen davon ausgiebig Gebrauch.

Dass es eng ist, macht niemandem etwas aus, denn eng, das gehört zum Massenevent dazu. Auch außerhalb des Geländes tanzen Zehntausende in der Innenstadt, zappelnde, hektische Körper. Ab und zu schreit einer seine Begeisterung in die Luft. Das offizielle Motto lautet „The Art Of Love“.
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Nach dem Umzug sollen Stars wie Tiësto aus den Niederlanden, „Loveparade“-Legende Westbam – es ist seine letzte Loveparade –, DJ Moguai oder der House-DJ David Guetta („When Love Takes Over“) zur musikalischen Kundgebung auflegen. Die Bundespolizei ist mit über 1200 zusätzlichen Polizeibeamten im Einsatz, um den Besuchern einen sicheren Weg vom Bahnhof zum Partygelände zu ermöglichen, heißt es. Eigentlich ist alles wie immer bei dem Umzug



15 Uhr: Immer mehr Menschen strömen zum Gelände. In einigen Zügen war Alkohol schon vor dem Startschuss der Veranstaltung ein Problem. Wodka und Bier floss in Strömen. Bis zum alten Güterbahnhof müssen die Raver vom Bahnhof aus einen ordentlichen Fußmarsch durch die Innenstadt zurücklegen.

15.03 Uhr: 1433 Helfer und 59 Notärzte an 30 Hilfestationen müssen zurzeit noch vor allem Schnittwunden behandeln. Doch immer häufiger hört man die Sirenen des Notarztes, für die Straßen ist der Ansturm inzwischen zuviel.

15.56 Uhr: Die Stimmung auf dem Gelände wird gereizter. Es ist zu voll und immer wieder laufen Menschen über die Gleise. Die Besucher müssen in umliegenden Orten aussteigen und werden mit Bussen zum Gelände gebracht. Der Hauptbahnhof wird gesperrt. Wer zurückfahren will, und das sind nicht wenige, wird nicht in den Bahnhof gelassen. Laute Beschwerden. Erste Rempeleien.

16:45 Uhr: Das Veranstaltungsgelände wird wegen Überfüllung geschlossen. 500.000 wartende Menschen stehen davor und können weder rein noch zum Bahnhof. Inoffizielle Schätzungen gehen inzwischen von zwei Millionen Besuchern aus. Die Polizei gibt über Lautsprecher Hinweise an die Teilnehmer und bittet sie zurück in Richtung Hauptbahnhof zu gehen. Ein Tunnel in der Karl-Lehr-Straße, vor dem Eingangsbereich des Veranstaltungsgeländes, ist zu diesem Zeitpunkt einziger Zugang zum Gelände. Niemand kann sehen, dass das Gelände hinter dem Tunnel abgesperrt ist.

16:50 Uhr: Teilnehmer laufen über die gesperrte Autobahn A.59 – und dann in den Tunnel in der Karl-Lehr-Straße. Augenzeugen warnen die Polizei vor der Gefahr, berichtet später die dpa. „Wir standen mittendrin. Es hatten immer mehr Menschen noch versucht, zum Gelände zu kommen“, sagte der 21-jährige Fabio.

„Wir waren schon durch den Tunnel durch und standen auf dem kurzen Stück vor dem Eingang. Dort ging es aber nicht weiter.“ Einige seien über Zäune und eine Leiter geklettert. „Wir sind danach durch den Tunnel zurück. Meine Freundin und ich haben schon kaum mehr Luft mehr bekommen und haben die Ellbogen ausgefahren, um noch wegzukommen. Anschließend haben wir die Polizei alarmiert und gesagt, dass es im Tunnel gleich zur Massenpanik kommen wird.“ Passiert sei aber erst einmal nichts.



16:57 Uhr: Die Polizei greift durch. 300 Beamte stehen vor dem Hauptbahnhof.

Ab circa 17 Uhr: Der Tunnel vor dem Partygelände entwickelt sich zum Nadelöhr. Viele versuchen zur Abschlusskundgebung auf das Gelände zu gelangen. Andere drücken in Richtung Bahnhof. Es geht weder vor noch zurück. Denen, die im Tunnel feststecken, geht der Sauerstoff langsam aus. Ein Augenzeuge sagt, von hinten hätten die Massen gedrückt: „Der Tunnel ließ keine Fluchträume zu.“ Panik entsteht. Menschen versuchen sich den Weg nach draußen frei zu kämpfen, wer hinfällt wird überrannt und hat keine Chance mehr.

17:08 Uhr: Twittereintrag eines Besuchers: „sehe ich das richtig, dass die versuchen 1 million menschen über die 1-spurige! TUNNELSTRAßE! Karl-Lehr-Straße mit zwischendurch 2 kleinen trampelpfaden hoch zum veranstaltungsgelände zu führen? also in meinen augen is das ne falle. das kann doch nie und nimmer gut gehen. wer in essen und dortmund dabei war weiß, wie groß das gedränge schon auf recht weitläufigen zugangswegen war. das war ne katastrophe und die wollen ernsthaft den zugang über nen einspurigen TUNNEL leiten?“ Und weiter: „ich seh schon tote wenn nach der abschlußkundgebung alle auf einmal über diese mickrige straße das gelände verlassen wollen.“

17:15 Uhr: 15 Menschen stürzen ab, als sie über eine Absperrung im Tunnel klettern wollten. Ihre Verletzungen, die man später untersuchen wird, deuten auf Quetschungen des Rückenmarks hin.

17:54 Uhr: Die ersten Agenturen: „Duisburg (ots) – Im Verlauf einer Massen-Panik im Tunnel der Karl-Lehr-Straße sind nach bisherigen Erkenntnissen offenbar zehn Personen getötet, zehn Personen reanimiert und etwa 15 Personen verletzt worden.“

18.00 Uhr: Der Tunnel leert sich nach Angaben von Augenzeugen nur langsam. Rettungssanitäter sind im Einsatz, reanimieren, können in manchen Fällen nur den Tod feststellen. Immer wieder starten Rettungshubschrauber von der nahe gelegenen Autobahn, dort haben sich alle Kräfte gesammelt. Unterdessen tanzen Hunderttausende weiter auf dem Gelände. Die Feiernden werden zunächst nicht über das Unglück informiert, um eine weitere Panik zu vermeiden.



Ab circa 18.10 Uhr: Viele Feiernde erfahren per SMS von dem Unglück. Nach Angaben des WDR war das Handynetz teilweise überlastet. Teilnehmer wurden nach 18 Uhr aufgerufen, nach Hause zu gehen, trotzdem dröhnte die Musik weiter – während manche Teilnehmer aggressiv wurden, weil sie nicht mehr auf das Gelände kamen. Im Norden dröhnt die Musik noch aus den Wagen, sagte der Sprecher des Malteser Hilfsdienstes. Bis dorthin habe sich die Nachricht von den Todesopfern am Süden noch nicht verbreitet.

18:23 Uhr: Kevin Krausgartner aus Wuppertal war im Tunnel und beschreibt die grauenhafte Szenerie: „Das hab ich noch nie erlebt. Da lagen 25 Leute auf einem Haufen. Ich hab geschrien, die Leute haben keine Luft mehr bekommen. Ich hab Tote gesehen, da saß einer, der war ganz blass, dem wollte ich Wasser geben. Aber der Sanitäter hat zu mir gesagt, das hat keinen Zweck mehr, der ist tot.“, sagt er. Und weiter: „Die Polizei stand auf der Brücke und hat nichts gemacht“.

18:43 Uhr: „Es war furchtbar, eine schreckliche Massenpanik. Die Leute wurden an die Wände gedrückt. Wir haben noch versucht einige Frauen herauszuziehen. Aber es ging weder vor noch zurück“, sagt Marvin Niggeloh, 19.

18:46 Uhr: Jemand spricht von 45 Verletzten. Die Polizei hält an der Zahl 15 fest.

19.02 Uhr: Langsamer Abgang vom Loveparade-Gelände. Die Notausgänge des Geländes wurden nach Angaben der Stadt Duisburg geöffnet. 120 Busse wurden aktiviert, die die Teilnehmer ursprünglich erst in der Nacht nach Hause bringen sollten. Auf der benachbarten Autobahn 59, die als Rettungsweg bereitsteht, stehen zahlreiche Rettungswagen und viele Rettungshubschrauber bereit. zu sehen.

19.06 Uhr: Die Polizei Duisburg twittert: „i.Verl.1er MassenPanik sind n.bisherigen Erk. 10 Personen getötet, zehn reanimiert und circa 15 verletzt worden“

19.18 Uhr: Ein Polizeisprecher bestätigt Medienberichte nicht, wonach sich die Zahl der Toten am frühen Abend auf 15, die der Verletzten auf 100 erhöht habe. Wenig später wird klar: Es sind mindestens 15 Menschen ums Leben gekommen. Eine Sprecherin der Polizei Duisburg sagte, es handle sich um neun weibliche und sechs männliche Teilnehmer. Man hört, es gebe 80 Verletzte.



20.10 Uhr: Die Pressekonferenz im Rathaus in Duisburg beginnt. NRW-Innenminister Ralf Wegner: „Ich bin entsetzt und traurig, dass Menschen, die unbeschwert feiern wollten, gestorben sind“, erklärte Jäger. „Mein ganzes Mitgefühl gilt ihren Angehörigen und Freunden.“ Nach Angaben des Düsseldorfer Innenministeriums reagierte der Krisenstab der Landesregierung unmittelbar auf das Unglück und entsandte weitere Behandlungs- und Betreuungskräfte aus ganz Nordrhein-Westfalen nach Duisburg. Der Oberbürgermeister von Duisburg Adolf Sauerland spricht: „Das ist eine der größten Tragödien, die die Stadt jemals erlebt hat“, sagt er. Zu den Vorwürfen, das Gelände sei nicht für die Veranstaltung geeignet gewesen, sagt er: „Zum Zeitpunkt der Katastrophe war das Loveparade-Gelände noch gar nicht gefüllt“.

Quelle: Welt Online

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